März 16, 2022 - Min LesedauerMin Lesedauer

Orale Gebrechlichkeit in der alternden Bewölkerung

Die Lebenserwartung steigt weltweit, und das Älterwerden geht mit zunehmenden körperlichen Einschränkungen und einem allmählichen Rückgang der Körperfunktionen einher. Im Bereich der Mundgesundheit ist dies als "orale Gebrechlichkeit" bekannt, ein Konzept, das große Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität hat. Durch rechtzeitiges Erkennen der ersten Symptome der oralen Gebrechlichkeit und geeignete Maßnahmen kann diese Verschlechterung verhindert werden, um den Patienten zu helfen, ihre gesunde Lebensspanne zu verlängern.

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Seit nunmehr einigen Monaten kommen in unserer Serie SUNSTAR CONVERSATIONS PRO – die sich an das zahnärztliche Team richtet – Experten zusammen, um z. B. über die Herausforderungen der Mundgesundheit, die Verhaltensänderung oder die Dentinhypersensibilität zu sprechen (hier noch einmal ansehen). Im September unterhielten sich Prof. Dr. Martin Schimmel und Prof. Dr. Georgios Tsakos über die Herausforderungen der Mundgesundheit bei der alternden Bevölkerung. Das Älterwerden geht mit zunehmenden körperlichen Einschränkungen und einer allmählichen Abnahme der Körperfunktionen einher. Im Bereich der Mundgesundheit wird dies als „orale Gebrechlichkeit“ bezeichnet – ein Zustand, der große Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität hat. Diesen Zustand zu vermeiden, hilft den Patienten, ihre gesunde Lebensspanne zu verlängern. Unsere Experten Prof. Dr. Martin Schimmel und Prof. Dr. Georgios Tsakos haben dieses relativ neue Konzept vorgestellt. 

 

Gebrechlichkeit, orale Gebrechlichkeit und orale Hypofunktion

Es gibt keine einfache Definition der „Gebrechlichkeit“. Die am häufigsten verwendete Definition wurde vor 20 Jahren von Fried et al. veröffentlicht. Sie beschreibt ein klinisches Syndrom bei älteren Erwachsenen, bei denen drei oder mehr Symptome aus einer Liste vorliegen. Darunter ungewollter Gewichtsverlust, Erschöpfungsgefühl, starkes Schwächegefühl, geringe Handkraft und Griffstärke, langsames Gehen und geringe körperliche Aktivität. Dies ist eine sehr körperbezogene Ausprägung der Gebrechlichkeit, aber die Definition kann auch kognitive Elemente und sogar umweltbezogene Aspekte miteinbeziehen. Als Zahnarzt, der ältere Menschen und geriatrische Patienten behandelt, sieht Dr. Schimmel dieses in die Zahnheilkunde vordringende Konzept der „Gebrechlichkeit“ aus der Perspektive des Geriaters. Ein Patient, der aus medizinischer Sicht gebrechlich ist, ist schwach und wird wahrscheinlich auf Pflege angewiesen sein. Diese Gebrechlichkeit wirkt sich dann auch auf die Mundgesundheit aus: die Fähigkeit, die Zähne zu putzen, ein gesundes Essen zuzubereiten und vieles mehr. Gebrechlichkeit ist ein sehr verbreiteter Gesundheitszustand bei älteren Erwachsenen, von dem mehr als 10 Prozent betroffen sind.

Mundgesundheit ist mit gesundem Altern verknüpft, aus einer physiologischen, funktionellen Perspektive, aber auch unter SOZIALEN, kognitiven und umweltbezogenen Aspekten.

Das Konzept der „oralen Gebrechlichkeit“ ist neu und stammt aus Japan, wo sich die Zahnärzte historisch bedingt nicht nur um die Zähne und orale Erkrankungen kümmern, sondern auch die orale Funktion miteinbeziehen. Ein 2018 von der Japanese Society of Gerodontology im Journal of Gerodontology veröffentlichtes Positionspapier definiert den Begriff „orale Gebrechlichkeit“ als eine Vorstufe im Konzept der „oralen Hypofunktion“, d. h. eine Abnahme der oralen Funktion aufgrund von Zahnfleischerkrankungen, verminderte Kaukraft und muskuläre Schwäche (Sarkopenie) der Kaumuskulatur. Die Erkrankung wurde in das japanische Gesundheitssystem aufgenommen, mit bestimmten Schwellenwerten in Bezug auf spezifische Parameter wie Abnahme von Zungenfunktion und -druck, Lippenfunktion, Kaukraft, Kau- und Schluckfunktion sowie schlechte Mundhygiene und Mundtrockenheit. Für Dr. Tsakos: „Wir benutzen dieselben Begriffe, aber die Konzepte, Gebrechlichkeit‘ und ,orale Gebrechlichkeit‘ sind nicht dasselbe. Aus der Sicht des öffentlichen Gesundheitswesens ist es zwar sehr wichtig, die funktionellen Aspekte im Bereich des Mundes zu betrachten, es ist aber auch von großer Bedeutung zu untersuchen, wie der Mund in das größere Gesamtbild der Gebrechlichkeit und des gesunden Alterns passt.“ Das lässt uns darüber nachdenken, wie die Mundgesundheit mit der Gebrechlichkeit insgesamt verknüpft ist, weil sie auch kognitive und umweltbezogene Aspekte umfasst und nicht nur die physiologischen und funktionellen Aspekte. Die Mundgesundheit wird durch die gesamte Gebrechlichkeit beeinträchtigt, aber umgekehrt beeinträchtigt sie diese auch. Darüber hinaus geht es auch darum, wie die Mundgesundheit bei Gebrechlichen erhalten werden kann und wie bedeutend dieser Teil für ein gesundes Altern ist. Es ist eine sowohl eine klinische Herausforderung, als auch für das öffentliche Gesundheitssystem.

Resolution der WHO und das Jahrzehnt des gesunden Alterns

Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) hat das nächste Jahrzehnt bis 2030 zum „Jahrzehnt des gesunden Alterns“ ernannt. Die Gründe dafür sind der demografische Wandel, aber auch der epidemiologische Wandel bei der Mundgesundheit mit einer hochgradig bedürftigen, älteren Bevölkerung. Gesundes Altern hat damit zu tun, wie ein gutes Niveau der Gesundheit und der Mundgesundheit aufrechterhalten wird. Aber auch damit, die sozialen Rollen und eine gute Lebensqualität bis zum unmittelbaren Ende beizubehalten.

Das traditionelle Pflegemodell wird nicht in der Lage sein, den alternden Gesellschaften gerecht zu werden. Alternde Menschen bilden eine wichtige Bevölkerungsgruppe, die nicht wie üblich behandelt werden kann. Die Lehrpläne an den zahnmedizinischen Fakultäten und auch die praktizierenden Zahnärzte müssen ebenfalls auf den aktuellen Stand gebracht werden, um diese Patientenpopulation zu versorgen.

Die globale Strategie laut der WHO-Resolution zur Mundgesundheit berücksichtigt einen Lebensverlauf-Ansatz, die alternden Bevölkerungsgruppen und den Mund wieder zu einem Teil des gesamten Körpers zu machen. Die Chance liegt darin, dies frühzeitiger zu erkennen, bevor die Menschen alt werden und Probleme bekommen. Zahnärzte müssen das Problem angehen, dass die Patienten älter werden und die Arbeitsauslastung sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich sehr stark auf die älteren Patienten konzentrieren wird. Statistiken aus Japan zeigen, dass die Karies- Prävalenz mit dem Alter zunimmt, während die Prävalenz der Parodontalerkrankung über das gesamte Lebensalter betrachtet gleich bleibt.  Ab einem Alter von 60 bis 70 Jahren, steigen die Beschwerden über den Verlust der Kaufähigkeit. Dieses funktionelle Problem in Angriff zu nehmen, wird zunehmend kritisch. Die Patienten werden sehr wahrscheinlich aufgrund mehrerer Faktoren im Zusammenhang mit der oralen Gebrechlichkeit an Gewicht verlieren. Das kann aufgrund einer Zahnfleischerkrankung oder Schmerzen in der Mundhöhle sein. Die Folge ist, dass die Betroffenen nicht mehr essen können. Zahnärzte müssen „mehr Mediziner“ werden, um sich mit der Gesamtsituation des Patienten zu beschäftigen, insbesondere bei gebrechlichen Patienten, und noch mehr mit Allgemeinmedizinern zusammenarbeiten.

„Es besteht ein realer Bedarf und wir müssen uns bewusst sein, dass bei unseren älteren Patienten viel mehr als nur das Bohren und Füllen oder die Extraktion von Zähnen vorkommt … Wir müssen jeweils das Gesamtbild der Patienten sehen, sei es die Polymedikation, Multimorbidität, auch die logistischen Aspekte wie etwa: wie kommen sie zur Praxis, können sie wirklich zweimal pro Jahr zur Dentalhygienikerin gehen, wie ist das in jedem Einzelfall zu organisieren … Der Bedarf an neuen Versorgungsmodellen, angepasst an die alternde Gesellschaft, wächst. Hierin besteht eine Chance für die Zahnheilkunde, näher an die Medizin heranzurücken“, sagt Dr. Schimmel.

Der Bedarf an neuen Versorgungsmodellen, angepasst an die alternde Gesellschaft, wächst.

Initiativen zur Anpassung der Pflege an ältere Patienten 

Es besteht Konsens, dass wir unsere Zähne zweimal täglich perfekt putzen sollten, aber die Barrieren dies anzuwenden, sind bei Menschen, die in Pflegeheimen leben, zu hoch. Tatsächlich zeigt eine Forschungsarbeit von Dr. Barber und Dr. Noack an der Universität Köln, dass wir neue Konzepte zur Mundhygiene finden müssen, die hinsichtlich des Personals praktisch anwendbar sind.

Die Zahnheilkunde der Vergangenheit würde sagen: „Wenn Sie die Zähne nicht reinigen können, warum nicht alle Zähne extrahieren und eine Totalprothese einsetzen.“ Zahnlosigkeit jedoch ist die letzte Stufe der oralen Beeinträchtigung. Prothesen sind Zahnersatz und weder eine Funktion noch eine Gefühlsempfindung lässt sich ohne Zähne erreichen – auch nicht mit Implantaten. Dr. Tsakos tendiert sogar dazu, seinen Studenten zu sagen, dass im Bereich der Mundgesundheit die Zahnlosigkeit faktisch mehr oder weniger gleichbedeutend ist mit Mortalität. Jüngere epidemiologische Trends zeigen, dass es kaum eine Prävalenz der Zahnlosigkeit gibt, was ein Grund zum Feiern ist, aber auch eine Verantwortung bedeutet, diese Zähne gesund zu erhalten. Eine aktuelle Studie untersucht nun, wie eine adäquate Mundgesundheit sichergestellt werden kann bei Menschen, die ans Haus gebunden sind, oder bei Menschen, die auf häusliche Pflege angewiesen sind.

Verschiedene Länder versuchen es mit unterschiedlichen Methoden. In der Schweiz zum Beispiel gibt es ein Konzept. Hier gehen speziell geschulte zahnmedizinische Fachangestellte einmal wöchentlich in die Pflegeheime, um diesen Patienten die Zähne zu putzen. Dies hat zu einer signifikanten positiven Auswirkung auf deren Mundgesundheit geführt. Im Vereinigten Königreich, wo die Mundgesundheit bei anfälligen Erwachsenen in Pflegeheimen bislang vernachlässigt worden war, werden nun Leitlinien umgesetzt, um mehr Interessengruppen einzubinden und Programme festzulegen, die sich um die Mundhygiene kümmern.

Insgesamt müssen wir aus diesen Initiativen lernen, um auf globaler Ebene, in allen Ländern, die besten Praktiken zu bestimmen. Der Schwerpunkt sollte jedoch auf die Zeit davor, bevor die Menschen in die Pflegeheime kommen, gelegt werden. 

Was können Zahnärzte gegen die orale Gebrechlichkeit tun?

Prävention der Karies in späten Lebensphasen bleibt eine Priorität, um die orale Funktion aufrechtzuerhalten.

Wenn Zähne verloren gehen, ist es bereits ein wenig zu spät. Wenn es jedoch passiert, kann die Funktion wiederhergestellt werden, besser mit Implantaten als mit herausnehmbarem Zahnersatz.

Es kommen Geräte und Hilfsmittel für das Mundtraining auf den Markt. Zum Beispiel kleine Gummis von unterschiedlicher Härte, um die Kaumuskulatur zu trainieren oder die Koordination der Gesichtsstrukturen zu verbessern. Sie befinden sich jedoch noch in ihren Anfangsstadien.

Es gibt auch neue Hilfsmittel aus Japan, um den Zungendruck zu messen. Zum Beispiel: ein kleiner Ballon, der mit der Zunge gegen den Gaumen gedrückt wird. Die Kaueffizienz kann ebenfalls bewertet werden, indem die Glukose-Extraktion aus einem Kaugummi gemessen wird. Diese Mittel sind sehr gute Prädiktoren für Gebrechlichkeit im späteren Leben.

Wenngleich die Zahl der verbleibenden Zähne wichtig ist, so ist auch deren Gesundheitsstatus wichtig für die orale Funktion und Lebensqualität. In der Tat zeigt die Studie „Global Burden of Disease“, dass Karies die orale Erkrankung mit der höchsten Prävalenz weltweit ist, und zwar im Dauergebiss, nicht im Milchzahngebiss. Karies ist keine Erkrankung der Kindheit, sondern ist bis in die späten Lebensabschnitte weit verbreitet und Wurzelkaries ist ein bedeutendes Problem. Und die Studiendaten belegen, dass sich stark ausgeprägte Karies auf die Lebensqualität auswirkt. Prävention ist möglich durch die Ernährung, Mundhygiene und Zahnpasta mit hohem Fluoridgehalt. Sogar durch Silberdiaminfluorid, das sich in Studien als recht effektiv erwiesen hat, obwohl das Mittel nicht in allen Ländern erhältlich ist und tendenziell mit einer schwarzen Verfärbung der Zähne einhergeht.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Zahnärzte können beim Umgang mit gebrechlichen Patienten nicht wie gewohnt vorgehen; sie müssen wissen, wie sie diese Patienten mit einem adäquaten Versorgungsansatz behandeln.

Frühzeitige Prävention und die Verhinderung von Zahnverlust über das gesamte Leben werden ein funktionelles Gebiss ohne herausnehmbare Prothese bei älteren Erwachsenen und eine höhere Lebensqualität in den letzten Phasen des Lebens ermöglichen.

Wenn Sie die Experten hören möchten, können Sie das gesamte Webinar hier ansehen.

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